„Bis Morgen, Phil.“
„Bis Morgen, Ms. Mason.“

Die Abendsonne, die durch die hohen Fensterscheiben in die Flure der Newshire Highschool schien, tauchte das Innere des Gebäudes in einen verträumten Schimmer. Weder die kleinen Risse im Putz, noch der dunkle Fleck an der Decke, die Mr.Hayleys Klasse im Werkraum hinterlassen hatte, konnten diesen Anblick trüben. Kaum war die junge Frau durch den Eingang verschwunden, griff Phil wieder nach seinem Besen und setzte den Weg durch sein kleines Reich fort. Zwanzig Jahre war er jetzt Hausmeister an der Schule. Ein ruhiger Job, Newshire zählte kaum zehntausen Seelen und somit waren Phil die Probleme seiner Kollegen in Boston oder Vermont unbekannt. Vielleicht waren sie auch nur einfacher zu übersehen.

Bis auf die eingetretenen Flecken, die Generationen kaugummikauender Schüler hinterlassen hatten, gab es an den Treppen, die in den ersten Stock führten, nichts auszusetzen. Den Gang hinunter zierten zahllose Aushänge die schwarzen Bretter. Phil fiel ein, dass er den Wasserspender noch reparieren lassen musste. Er seufzte. Wenn die Schulverwaltung nur nicht immer so einen Aufhebens wegen jedes ausgegebenen Dollars machen würde.

Sein Blick fiel auf die Tür des Kartenraums. Eigentlich war es nicht wirklich der Kartenraum, sondern das Bücherlager der Newshire High. Nach dem Wasserschaden mussten die Wälzer jedoch etwas zusammenrücken. Licht schien unter der Tür hindurch und ein Zettel war dort mit breiten roten Klebestreifen festgemacht. „Newshire High Abschlussklasse – Organisationskomitee – Bitte nicht stören.“ Seine Hand griff nach der Klinke.

„Hey, Mr. Romersa.“

Phil hatte schon vor langem den Versuch aufgegeben, sich die Namen der Schüler zu merken. Das Mädchen, dass ihn gegrüsst hatte, trug asiatische Züge. Sie breitete eine Karte von New England auf den Tischen aus, die in der Mitte des Raumes zusammengeschoben waren. Nickie? Karla? Zwei Jungen durchstöberten die Regale, einer war hochgewachsen, der andere etwas kleiner und dicklich. Warscheinlich suchten sie nach einem Touristenführer oder etwas in der Art. Ein weiteres Mädchen mit braunen Locken stand am Fenster und hielt ein Packung Zigaretten in der Hand, die sie nun wieder in ihrer Tasche verstaute, wobei sie ihm einen eiskalten Blick schenkte. Er hatte ihre Mutter gut gekannt, aber auch ihrem Gesicht konnte er keinen Namen zuordnen.

„Die Tür wird gleich abgeschlossen. Wenn ihr fertig seit, kommt einfach nach oben und klingelt kurz durch. Ich schau mir sowieso noch das Spiel an.“

Der Hochgewachsene drehte sich um und legte ein paar der ausgewählten Werke ab. „Boy Scouts Guide to National Forests“, „Backpackers Guide to New England“, sah nicht so aus als hätte dieser Jahrgang viel Geld zusammengespart.

„So wie sie’s sagen, wird’s gemacht, Mr. R.“

Phil schloss die Tür hinter sich und schulterte ein weiteres Mal seinen Besen. Er dachte an seine eigene Abschlussfahrt und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Die Kids würden sicher eine Menge Spaß haben.

Ein kalter Hauch zog durch das Fenster. Die Abendsonne war längst von fahlem Mondlicht verdrängt worden. Seit Stunden versuchten sie nun schon einen passenden Ort für ihre Abschlussfeier zu finden. Patrick setzte sich zu Michelle ans Fenster, die in ihrer Tasche nach ihrem anderen Feuerzeug kramte. Er rieb sich die Augen.

„Das ist einfach lächerlich.“

David schaute hinter einem der zahlreichen Reiseführer vor, die inzwischen überall im Raum herumlagen und legte den Finger an den Mund.

„Psch! Sie muss sich konzentrieren.“

Patrick verschränkte die Arme und schaute zu Michelle herüber. Es musste das neunte oder zehnte Feuerzeug sein, dass sie aus ihrer Tasche gekramt hatte, aber dieses funktionierte.

„Lass sie, Patrick. Die Kleine hat sowas drauf. Ausserdem ist ein verdammtes Kaff doch so gut wie das andere.“

Der Schatten von Nicoles Pendel tanzte über die Landkarte. Das Komitee hatte inzwischen schon die Grenzen abgesteckt, die der Schulbus mit einer Tankfüllung erreichen konnte. Pendel, Wünschelruten, Ouija-Bretter und dergleichen hatten keinen Platz in Patricks Welt, die vornehmlich aus Musik und Cheerleaderinnen bestand. Genau genommen hatten auch Mädchen wie Nicole keinen Platz darin. Mit Michelle sah das schon anders aus, auch wenn sie aufsässig war und warscheinlich wie ein Aschenbecher schmeckte, kleidete sie sich weder wie ein alter Sack, noch hatte sie stumpfes, strubbeliges Haar oder trug eine schwarze Hornbrille. Das einzige was er an David schätzte war, dass er sehr wohl einen festen Platz in seiner kleinen Welt hatte. Er gehörte zu der Art Leute, die so hilfsbereit sind einen morgens die Hausaufgaben abschreiben zu lassen, und so schwach, das man sie am Nachmittag mit der Clique um den Häuserblock jagen kann.

Nicole hatte die Augen geschlossen und schien nichts von der Welt ausserhalb mitzubekommen. Unendlich langsam wanderte ihre Hand über Berge, Täler, Flüsse und Seen. Dann verharrte ihr Pendel und ihre Lippen formten einen Laut.

„Bingo!“

Michelle nahm noch einmal einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und drückte sie an der Fensterbank aus. Sie schob David ein Stück zur Seite um einen Blick auf die Karte zu erhaschen. Sie kannte die Gegend, und die einzig positive Bezeichnung, die ihr in den Sinn kam, war „ruhig“. Auch Patrick hatte seinen Platz am Fenster verlassen, und spähte über Nicoles Schulter.

„Wie sie sehn‘, sehn‘ sie einen See. Okay, was ist dort tolles?“

David nahm eines der Bücher von den Rändern der Karte, worauf sie sich ein Stück weit wieder zusammenrollte. Mit einem gekonnten Griff hatte er das Inhaltsverzeichnis aufgeschlagen.

„R…S…T… Hotels, Pensionen, oh… das ist es!“

Er blätterte einige Seiten zurück und legte das Buch auf den Tisch. Nicole legte das Pendel in die kleine Schachtel zurück, aus der sie es genommen hatte, und zog dann das Buch an sich heran.

„Das St.Carrols Boy Scout Camp ist auf den Besuch durch Schulklassen oder Kinder- und Jugendgruppen eingerichtet, bietet die entsprechenden Schlaf- und Aufenthaltsräume, sowie ein großes Angebot an Freizeitmöglichkeiten im Haus oder der direkten Umgebung. Informationsmaterial wird Ihnen auf Anfrage gerne zugesandt.“

Das Orakel hatte gesprochen, und was Patrick hörte, hatte ihm gefallen. Seine Miene hellte sich auf.

„Wisst ihr was das heisst? Ein verdammtes Pfadfinderheim, in einem verdammten Wald, auf einer verdammten Insel, in der Mitte eines verdammten Sees! Wir können die Boxen aufdrehen und den Alkoholvorrat eines kleinen Landes vernichten, ohne das uns die Bullen die Party sprengen!“

Nicole stand von ihrem Stuhl auf und strich über ihr Kleid. Sie legte eins der gelben Post-It Notes in das Buch, die zahlreich auf New England ruhten, und drückte es Patrick in die Hand.

„Na dann. Toluca Lake, wir kommen.“

Fortsetzung folgt …