[dropcap size=small]V[/dropcap]on Kritikern bereits als Vaporware bezeichnet, hat „S.T.A.L.K.E.R. – Shadow of Chernobyl“ in seinem sechs Jahren Entwicklungszeit einen steinigen Weg hinter sich gebracht. Nach zahlreichen Konzeptänderungen, verschiedenen geleakten Alpha-Versionen, finanziellen Problemen und unzähligen Ankündigungen, die ins Leere führten, ist nun ein Videospielwerk erscheinen, dass weder enttäuscht, noch Erwartungen erfüllt. Oder vielleicht trotzdem beides tut. In vielerlei Hinsicht ist das ambitionierte Videospielwerk von GSC Game World eine Überraschung. Das Spiel ist nicht das, was ein oberflächlicher Blick zunächst suggeriert. Je nach Spielsituation bieten sich verschiedene erste Eindrücke: Manchmal sieht es aus wie ein Ego-Shooter, und doch geht es nicht primär nur um das Erschießen von bewegten Zielen. In anderen Situationen wirkt es wie ein Rollenspiel, doch obwohl ein umfangreiches Inventar eine entsprechend vielseitige Ausrüstung der eigenen Spielfigur erlaubt, geht es nicht darum, neue Fähigkeiten zu erwerben oder alte zu verbessern. Es gibt Zeiten, in denen das Spiel wie eine Handelssimulation wirkt, da Gegenstände verkauft, als auch gekauft oder getauscht werden können. Aber auch das ist nur einer von vielen Bestandteilen, aus denen sich „S.T.A.L.K.E.R.“ zusammensetzt. Es ist ein Patchwork aus vielen kleinen Elementen verschiedener Genres, dessen Kern sich allerdings auf ein einfaches Ziel reduzieren lässt: Es geht ums Überleben. Und „S.T.A.L.K.E.R.“ simuliert diese Welt, in der wir überleben sollen. Patchwork [column size=one_half position=first ]Die Zusammensetzung der vielen Teile wirkt wie ein ungeschliffener Diamant. Würde man das Spiel in seine Einzelteile zerlegen und jedes einzelne auf seine Qualität überprüfen, so wäre das Ergebnis ernüchternd. Spieltechnisch ist „S.T.A.L.K.E.R.“ nicht besonders stark in Details. Die Shooter-Sequenzen sind beispielsweise zu einseitig, da nach immer gleichen Prinzipien Gegner besiegt werden können. Die Rollenspielelemente geben dem Spieler nicht genug Freiheiten, um seinen eigenen Charakter zufriedendstellend entwickeln zu können. Auch in den anderen Elementen steckt zu wenig, als das sie für sich stehen könnten. Üblicherweise macht es dann wenigstens die Mischung; dezente Zutaten für einen schmackhaften Gameplay-Cocktail. Aber selbst das ist bei „S.T.A.L.K.E.R.“ nicht richtig gegeben. Spielerisch eckt das Spiel an vielen Stellen an. Die Ungereimtheiten sind niemals so groß als das es das Gameplay komplett ruinieren würde, aber einen derartigen Genremix hat man schon in weitaus besseren Symbiosen gesehen.[/column] [column size=one_half position=last ]Paradoxerweise ist „S.T.A.L.K.E.R.“ trotzdem mehr als spielenswert. Der Titel kann als hervorragender Roman mit vielen sprachlichen Fehlern beschrieben werden; ein inhaltlich herausragendes Werk, bei der die Ausführung einfach nicht ganz gelungen ist. Der Vergleich hinkt noch nicht einmal, da sich die Entwickler tatsächlich an dem russischen Romanklassiker „Picknick am Wegesrand“ von Arkadi und Boris Strugazi orientiert haben. Eigentlich sogar erheblich. Das Buch beschreibt Lebensepisoden verschiedener Charaktere, die in einer Stadt leben, die vor vielen Jahren von einer fremden Zivilisation besucht worden ist. Diese haben im umliegenden Gebiet jedoch einige merkwürdige Dinge hinterlassen und sie auf unheimliche Art verändert. Naturgesetze scheinen stellenweise außer Kraft getreten zu sein und ebenso sind unerklärliche Dinge, die als Artefakte bezeichnet werden, in dem Gebiet verteilt. Dieser Bereich wird „die Zone“ genannt, in die der Protagonist als Stalker unerlaubt eindringt, um Schätze zu bergen. Eines Tages erfährt er von der sagenumwobenen goldenen Kugel, von der nachgesagt wird, dass sie Wünsche erfüllen kann. Selbstverständlich macht er sich auf die Suche.[/column] etwas war hier Das Spiel überlässt dem Spieler die Kontrolle über einen Stalker, der nach einem Unfall unter Gedächtnisverlust leidet und Aufträge annimmt, die nach und nach seine Erinnerung bzw. seine Geschichte aufdecken. Wichtiger ist jedoch: Ausgetauscht wird das Element der „fremden Zivilisation“ aus dem Buch gegen die reale atomare Katastrophe in Chernobyl von 1986. Mit dem Reaktorunfall ist etwas für den Menschen nicht greifbares auf der Erde gelandet und hat die Zone mitsamt seiner Merkwürdigkeiten hinterlassen – analog zu dem Buchtitel „Picknick am Wegesrand“, was besonders auf den Müll der Menschen anspielt, der nach einem Essen im Freien hinterlassen wird. Für die Tiere kann all das von Nutzen sein oder Gefahren bergen, aber es ist die Hinterlassenschaft eines fremden Besuches, der sich ihrem rationalen Horizonts entzieht. Das gibt dem verstrahlten Gebiet und vor allem dem Kern allen Übels – dem Reaktor selbst – eine gewisse mystische Ausstrahlung und verhilft zudem einem wichtigen dramaturgischen Element genügend Einfluss auszuüben: Der Strahlung selbst. Wie in der Realität ist sie im Spiel mit einem Geigerzähler messbar und somit akustisch auszumachen, doch sie selbst ist nicht zu sehen. Sehr wohl allerdings die verheerenden Auswirkungen der Strahlungen, die – der Buchvorlage entsprechend – die naturgesetze sogar umgehen. Teils verfallende, von der Natur fast zurückeroberte Gebäude, von Krankheiten befallene Planzen und verdreckte Seen werden von dem Spieler sicherlich erwartet. Eher überraschender ist der teils rötlich gefärbte Himmel, das Auftauchen zahlreicher feindseeliger Mutationen und sogenannter Anomalien. Tritt der Spieler versehentlich in eine solche Anomalie, können ihm die unterschiedlichsten Dinge wiederfahren. Er wird entweder weggeschleudert, tödlich zerrissen, löst sich in Staub auf oder wird von einem Blitz getroffen. Anomalien sind kleine Erscheinungen in der Landschaft, die manchmal aussehen wie kleine Lichtspiegelungen, oder wie winzige Kugelblitze. Manchmal sind sie fast unsichtbar, in den meisten Fällen sogar lautlos. Erst wenn die eigene Sicht beginnt zu verschwimmen, weiss man: Hier muss irgendwo eine Anomalie sein, also Vorsicht bei jedem Schritt! unsichtbar [column size=one_half position=first ]Merkwürdige Lebewesen und Erscheinungen sind längst nicht der ausschlaggebende Punkt für „S.T.A.L.K.E.R.“s ungemein intensive Atmosphäre. Der besondere Kniff ist tatsächlich das, was man nicht sieht, was man nicht genau erklären kann. Stets ist etwas präsent, irgendetwas liegt in der Luft. Als wäre noch etwas da, was einem umringt. Um das eigene Gewissen zu beruhigen kann man behaupten, es wäre die Strahlung allein, doch da ist offenbar mehr. Die größte atmosphärische Stärke von dem Spiel ist neben dem gekonnten Einsatz vieler dramaturgischen Mittel des Horrorgenres die gelungene Vermittlung ständiger Bedrohung. Der ständigen Präsenz von dem Etwas.[/column] [column size=one_half position=last ]Ein weiterer ausschlaggebender Pluspunkt ist der originalgetreue Nachbau wichtiger Gebiete, die in der Realität tatsächlich existieren. Während die allgemeinen Umgebungen zumindest an das betroffene Umland in der Ukraine erinnert, wurde das Atomkraftwerk und die nahe gelegene Stadt Prypjat mithilfe intensiver Recherchen mit Polygonen nachgeformt. Die Ähnlichkeit, die mit Vergleichen mit im Internet leicht auffindbarer Fotoaufnahmen erkennbar wird, ist beeindruckend und beängstigend zugleich. Darüber hinaus gelingt es den Entwicklern durch redselige NPCs (meist anderen Stalkern) ein Bild der Zone vor dem geistigen Auge des Spielers zu zeichnen. Es kursieren Geschichten, in denen Ängste und Befürchtungen vor gefährlichen Gebieten deutlich werden und die Erwartungshaltung des Spielers zu seinem Unwohlsein inspiriert. Je nach Lebendigkeit eigener Fantasie können die Differenzen, die bei der tatsächlichen Exploration zutage treten, teils enorm sein. Dennoch sind gerade die primär unheimlichen Areale so geschickt gestaltet, dass größeren Enttäuschungen geschickt vorgebeugt wird.[/column] einzigartig Bisweilen wird man in dem Verlauf des Spiels immer wieder zu dem Zweifel kommen, ob der Titel bereits all seine Karten ausgespielt hat. Phasenweise ist das Pacing tatsächlich erschreckend schlecht oder untergräbt schlicht das enorme inhaltliche Potential. Das sind zum Beispiel ausufernde Actionsequenzen, die teilweise schon wie Kriegsszenarien anmuten. Oder die unmotiviert zusammengestellte Kollektion von nahezu belanglosen Nebenaufgaben, die dem gelungenen Hauptplot nur wenig hinzufügen können. Stellenweise wirken manche Charaktere wie wahllos in der Landschaft verteilte Lückenfüller, während die wirklich wichtigen Figuren recht gut ausgearbeitet sind. Doch immer dann, wenn man als Spieler das Ruder loslassen möchte, kommt ein weiterer extrem motivierender Höhepunkt, bis das lohnenswerte Finale erreicht ist. Auch wenn er ungeschliffen und rauh ist: Im Inneren ist „S.T.A.L.K.E.R.“ letztendlich doch ein wertvoller, einzigartiger Diamant. Die umfangreiche Liste der teils auch spannungshemmenden Ungereimtheiten schließt eine generelle Empfehlung aus, aber das Spiel wird als ungewöhnliches und einzigartiges Werk in Erinnerung bleiben – glücklicherweise nicht nur wegen seiner umfangreichen Entwicklungsgeschichte. S.T.A.L.K.E.R.Ein einzigartiges Szenario, ein ambitioniertes Spielkonzept und eine großartige Atmosphäre treffen auf viele technische Ungereimtheiten und lästigen Design-Entscheidungen, die selbst nacht einigen Patches nicht vollständig behoben worden sind. Trotzdem ein einzigartiges Spiel mit einigen unvergesslichen Momenten.audiovisuelle Präsentation9Realisierung der Spielmechanik6inhaltliche Gestaltung und dramaturgische Aufbereitung92007-05-108GesamtwertungLeserwertung: (0 Votes)0.0