David fuhr sich durch die Haare. Falsch, falsch, das hier war doch einfach nur falsch.

Die beiden hatten die Feuerstelle hinter sich gelassen und waren den Pfad zum Haupthaus zurückgegangen. So oder so würde die restliche Glut in wenigen Stunden heruntergebrannt sein und David spürte nicht das Verlangen, dort im Dunkeln herumzuirren. Auch wenn die Schüler einige Kanister Benzin aus dem Generator abgezeigt hatten, um ihre Interpretation des Infernos in Gang zu kriegen, war der Vorhof des Haupthauses noch hell erleuchtet.

Doch das Problem war weder das Licht noch Dunkelheit. Dort, wo das Gelände an der Waldweg kreuzte, über den sie am Nachmittag das Lager erreicht hatten, grenzte eine kleine Schranke die Zufahrt ab. Die Verwaltung befürchtete anscheinend, jemand würde den Vorplatz als Parkgelegenheit missbrauchen.

„War das vorhin schon hier?“

Michelles Augen ruhten auf der absurden Konstruktion, die vor ihnen lag. Jemand hatte die Schranke herabgelassen und das rot-weiss lackierte Holz mit einem Geflecht aus Stacheldraht, rostigen Reisszwecken und langen, hervorstehenden, Nägeln versehen. Sie streckte ihre Hand danach aus, entschied sich im letzten Moment aber noch anders. Stattdessen schaute sie links und rechts von der Zufahrt nach einem weiteren Durchgang. Der Stacheldraht war an den Seiten sorgfältig mit dem hohen Zaun verbunden worden, der das Gelände umgab.

„Hier geht nichts, David. Wir müssen einen anderen Weg finden.“

Er wandte den Blick von der Schranke ab, und ging zum schwarzen Brett, dass an der Aussenwand des Hauptgebäudes befestigt war. Die Aushänge wiesen auf allerlei touristische Attraktionen in New und Old Silent Hill hin, Ruderausflüge auf dem Toluca Lake, der Jahrmarkt, das Schulfest, auch wenn das verwitterte Papier den Eindruck vermittelte, dass all diese Veranstaltungen schon lange vorbei waren. Unter den Prospekten erahnte er etwas, was vielleicht noch nützlich werden konnte.

David erhob seine behelfsmässige Fackel. Funken flogen, und nach wenigen Hieben fiel das Glas in Scherben zu Boden.

„Hey, was soll das werden?“

Michelle war herbeigeeilt, als sie das Klirren gehört hatte. Offensichtlich hatte er den Glaskasten an der Hauswand zertrümmert und angelte nun mit einer Hand vorsichtig nach einem der Aushänge. Die Fackel lag auf dem Steinboden und war nur noch leicht am Glimmen.

David zog die Hand zurück und hielt eine grosses Stück Papier fest. Sie ging an seine Seite und warf einen Blick darauf. Scherben am Rand hatten einige Löcher hineingerissen, aber es war noch alles zu erkennen.

„Eine Karte.“

„Stimmt, vom Camp und dem Rest der Insel.“

„Kannst du sehen, wie wir hier rauskommen?“

David fuhr mit den Augen die schwarze Linie um das Lager nach. Auch wenn man ein paar Meter in den Wald gehen konnte bevor man auf den Zaun stiess, waren sie doch vollständig von ihm umgeben. Bis auf…

„Das Haupthaus. Der Zaun schliesst an den Seiten an das Haupthaus an, wenn wir irgendwo ein offenes Fenster finden, können wir vielleicht herausklettern. Es ist nicht besonders hoch.“

„Und was machen wir dann? Spielen wir verstecken im Wald bis die anderen uns finden?“

Der Junge lugte über die Karte und fixierte sie. Eine Hand an der Hüfte gestützt, die andere an ihrem Glimmstengel. Diese selbstgefällige Pose.

Ihre Blicke kreuzten sich. Michelle zuckte leicht zurück. David hatte sie oft angesehen. Auf dem Schulhof, in der Klasse, beim Sport. Es war ihr nie besonders aufgefallen. Ein Blick wie ihn Jungen einem Mädchen zuwerfen, dass ausserhalb ihrer Liga ist. Nervös, fragend, ein wenig unterwürfig. Aber dieser Blick war anders.

Sie nahm noch einen tiefen Zug und drückte ihre Zigarette an der weiss verputzten Hauswand aus, wo sie einen unregelmässigen schwarzen Fleck hinterliess.

„Sorry. War nicht so gemeint. Ist nur… du weisst schon.“

„Hast du deinen Schlüssel dabei?“

„Schlüssel?“

„Zum Haupthaus. Wir vier haben alle einen gekriegt. Meiner ist in der Hütte eingeschlossen, deswegen brauchen wir deinen.“

„Äh, ja klar. Ich hab meine Schlüssel immer bei mir.“

Michelle klopfte sich nochmals auf ihre Hose. Dann begann sie damit die Inhalte ihrer Taschen auf dem Boden anzuordnen. Hauptsächlich Feuerzeuge und angebrochene Zigarettenpackungen verschiedenster Billigsorten, ihr Geldbeutel und einige blaue Fasern.

Sie drehte ihren Kopf zum Anbau hinüber und begann, mit dem Finger auf ihrer Unterlippe herumzukneten.

„Das kannst du vergessen, ich stecke da doch nicht meine Finger rein.“

David seufzte. Er kniete sich vor das Loch in der Eingangstür der Damentoilette. Er warf einen kurzen Blick hinein, es schien nicht viel anders zu sein als die Herrentoilette, doch die Notbeleuchtung lies das meiste im Dunkeln. Was er erkennen konnte, war das lange blaue Halsband, an dem Michelles Schlüsselbund befestigt war. es musste sich verfangen haben, als sie durch das Loch hinauskletterte. David steckte seinen Arm tief hinein, bis er ein flauschiges Knäuel zu fassen bekam. Obwohl die Nacht den Boden abgekühlt hatte, war es dort drinnen unnatürlich war. Er zog seinen Arm so schnell wie möglich wieder hinaus und betrachtete seinen Fund.

An dem kleinen Plüschkaninchen, das er in der Hand hielt, hingen ein paar Stoffreste und eine Auswahl verschiedener Schlüssel. David hatte keine Ahnung, ob sonst etwas fehlte, aber der längliche, silbrige Schlüssel mit dem charakteristischen Zackenmuster war noch da.

„Hier, das gehört dir!“

Er stand auf und warf ihr den Schlüsselbund zu. Sie machte keine Anstalten ihn zu fangen, sondern liess ihn vor sich fallen. Das Plüschkaninchen mit dem Zorrohut und der Augenbinde, welches schon in der Grundschule ihren ersten eigenen Haustürschlüssel bewacht hatte, lächelte sie an. Michelle betrachtete es mit dem Blick eines Mädchens, dass einen Hund streicheln will, aber nicht sicher war, ob er nicht beisst.

Einige Sekunden verstrichen, ohne dass das Kaninchen anstalten machte, sie zu beissen. Sie hob den Schlüssel mit spitzen Fingern auf. David blickte sie an.

„Alles klar?“

„Ja. War nur… nichts. Los, gehen wir.“

Sie waren bereits am Vormittag im Haupthaus gewesen, um einige Sachen in das Lager zu bringen. Eigentlich hatten sie auch einen Vertreter der Lagerverwaltung erwartet, um die Formalien zu erledigen. Stattdessen hatte das Kommittee einen dicken Umschlag auf dem Tresen des Empfangs vorgefunden. Alles nötige war dort drinnen. Mietvertrag, Hausordnung, Bransschutzhinweise, Schlüssel für Hütten und Toiletten, und noch ein paar andere Kleinigkeiten.

Jetzt war der Empfang dunkel. David betätigte den Lichtschalter, aber die Dunkelheit blieb. Entweder versorgte der Generator nur die Aussenbeleuchtung, oder die Lampe war schon kaputt gewesen, als sie ankamen. Durch das einzige Fenster drang etwas Licht von aussen in den Raum, die Sprünge im Glas projezierten ein schwaches Muster an die Wände.
Michelle nahm etwas vom Tresen, drehte es ein paarmal hin und her und schien dann gefunden zu haben, was sie suchte. Mit einem satten Knacken rastete der Schalter ein und ein helles Leuchten zerschnitt das Halbdunkel.

„Maglight. Nicht schlecht.“

Sie führte den weissen Lichtkegel im Raum herum. Bis auf das kaputte Fenster schien sich nichts verändert zu haben. Den grössten Teil des Raums nahm der grosse Tresen ein, hinter dem sich ein Schreibtisch befand, auf dem sich ein archaischer Computer befand. Zettelkästen standen neben dem Monitor, waren aber schon seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden. Auf dem Tresen befand sich ein Telefon mit Wahlscheibe, sowie eine spärlich gefüllte Spendenbox für die „Silent Hill Smile Support Society“, dem Aufdruck nach irgendeine wohltätige Organisation aus der Gegend. Davor stand ein niedriger Tisch mit zwei alten Stühlen und einer leeren Blumenvase darauf. Trostlos. Eine grosse Pinnwand hing an der Wand, spärlich bestückt mit alten Zeitungsausschnitten, Bildern von vermissten Haustieren und Angeboten für Nachhilfeunterricht, die offensichtlich nicht auf besonders grosses Interesse gestossen waren.

Zwei Türen führten aus dem Empfangsraum in die anderen Zimmer. Wenn er sich richtig erinnerte, kam man durch die linke Tür in den Versammlungsraum und durch die Tür hinter dem Tresen in das Lager. Michelle richtete den Schein der Lampe nach links.

„Wenn du ins Lager willst, kommen wir da auch durch den Versammlungsraum rein. Oder willst du über den Tresen klettern?“

David drückte die Klinke herunter. Nicht verschlossen.
Sie gingen ein paar Schritte hinein und liessen die Tür hinter sich zufallen. Michelles Maglight war die einzige Lichtquelle in diesem Raum. Die Fenster zeigten alle zum Waldweg hinaus, der unbeleuchtet war.

„Scheisse, was ist das?“

Ein bedrohliches Knurren füllte den Raum. Er konnte nicht einordnen, woher es kam, es war als ob sie inmitten eines wütenden Rudels standen. Etwas bewegte unter dem Tisch, dann schob sich eine der Sitzbänke hinten im Raum mit einem schabenden Geräusch zur Seite.

„Hier ist irgendwo ein Hund oder sowas.“

David tastete in der Dunkelheit nach irgendwas, das ihm Schutz bieten konnte, doch mehr als einen Holzstuhl begann er nicht zu fassen. Der Lichtkegel der Taschenlampe tanzte um die Sitzbank herum. Michelle hielt die Taschenlampe mit beiden Händen und drückte sie an die Wand.

„Ich… ich glaube nicht, das das ein netter Hund ist!“

Nur für einen Augenblick erfasste das Licht den grossen schwarzen Schemen, der auf dem Tisch lauerte. Doch es reichte aus um zu erkennen, was kommen würde. Der Schemen fletschte die Zähne und setzte zum Sprung an. David riss den Stuhl hoch.

Das Gewicht des Tieres riss ihn von den Füssen. Seine Brille fiel zu Boden und rutschte unter den Tisch. David versuchte wieder auf die Beine zu kommen, aber seine Brust schmerzte von dem Aufprall.

„Aaah!“

Er schrie. Zähne gruben sich tief in seinen Unterschenkel und zerrten an ihm als wollten sie ihm das Fleisch von Knochen reissen.

Ein greller Schein der fuhr kurz über seine Augen hinweg. Ein dumpfes Knacken war zu hören. Der Hund taumelte zur Seite, als Michelles ihn ein zweites Mal mit der schweren Maglight am Schädel traf. Nach einigen unsicheren Schritten kippte es zur Seite. Sie trat noch ein paarmal auf das Tier ein um sicher zu sein das es liegen blieb.

„Nimm das, du verdammte Scheisstöhle. Und das und das und das!“

David setzte seine Brille wieder auf. Die Bügel waren verbogen, aber ansonsten war sie unverseht.

Michelle hatte sich mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, und atmete schwer. Das Licht der Taschenlampe hatte sich rot gefärbt. Er stützte sich an einem Tisch ab und stand auf. Sein Bein brannte wie Feuer.

Doch es war okay. Flucht oder Kampf waren nicht mehr notwendig. Das Hochgefühl überrollte ihn stärker noch als die Wucht des Zusammenpralls mit dem Tier. Er konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Sie schaute ihn für einen Moment an, als hätte er den Verstand verloren, konnte dann aber nicht anders, als mit ihm zu lachen.

Zwei Menschen, siegreich im Kampf gegen ein Raubtier. Für einen Moment was alles war so einfach. Viel einfacher als das Verschwinden ihrer Klassenkameraden oder von Unbekannten verzäunte Wege.

„Wow. Bist kein Fan von Hunden, was?“

Michelle hustete.

„Wenn du Pizzas austragen würdest, David… hättest du auch eine andere Meinung von den Viechern.“

Sie wischte die Lampe an einem der Wimpel ab, die die Wand verzierten und leuchtete dann das Tier an, dass sie erlegt hatte. Der Moment, in dem alles so einfach war, ging so schnell vorüber wie er gekommen war und nahm das Lächeln auf ihrem Gesicht mit sich.

„Was ist los, Michelle? Lebt er noch?“

David blickte auf die Kreatur herab. Mitleid regte sich in ihm, doch seine Wunde hatte wieder angefangen zu schmerzen und verdrängte alle die anderen Gefühle aus seinem Kopf. Der Hund – ihm viel kein besseres Wort für das Tier ein – erinnerte an einen Rottweiler, hatte aber kaum mehr Fell. Muskeln, Sehnen und Knochen lagen ungeschützt offen. Übelkeit stieg in ihm hoch.

„Wir müssen weg von hier. Weg von dieser Insel. Schnell.“

Michelle deutete auf seinen Unterschenkel. Die Hose war zerrissen und die Reste der Jeanshose glänzten feucht.

„Kannst du laufen?“

David stützte sich vorsichtig auf sein verletztes Bein. Er spürte keinen Unterschied.

„Geht schon.“

Ein kühler Luftzug wehte durch das Lager. Das Fenster zum Waldweg hin stand weit offen. So musste das Tier hier hineingekommen sein. Und so würden sie auch hier herauskommen.

Michelle wühlte in den Regalen herum, die den kleinen Raum fast vollständig vereinnahmten. David hatte einen Klappstuhl aufgestellt und lies Jod auf seine Wunde träufeln. Er presste die Zähne zusammen. Auf den Utensilien im Erste-Hilfe-Kasten war zwar kein Verfallsdatum auszumachen gewesen, aber was konnte schlimmer sein, als mit einer infizierten Bisswunde herumzulaufen. Den Bildern auf dem Beipackzettel folgend versuchte er sich an einem Druckverband.

Gebrauchsgegenstände füllten die Regale. In dem Gerümpel hatten Michelle eine zweite Taschenlampe gefunden. Nicht so ein stabiles Modell wie die Maglight, aber dafür klein genug um sie in der Hemdtasche zu tragen. David bewaffnete sich mit einer stabilen Gartenschaufel, die in der Ecke gestanden hatte, und leuchte hinaus.

„Haben wir alles?“

Sie nickte.

David nahm einen tiefen Zug der frischen Waldluft und begann dann mit dem Abstieg. Michelle reichte ihm erst seine Waffe hinunter, und folgte dann.

„In welche Richtung geht es?“

Fortsetzung folgt …